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Nichts verwandelt uns so wie das Reisen

Reisen verändert. Was schon Montaigne, Humboldt, Goethe und Ida Pfeiffer wussten, kann heute die Wissenschaft bestätigen. Und sie beweist, dass Wegfahren erholsamer sein kann als Dableiben.

Sind Sie ein Wandervogel? Das Reisefieber bringt neue Perspektiven ins Leben.
Sind Sie ein Wandervogel? Das Reisefieber bringt neue Perspektiven ins Leben.
Michel de Montaigne schrieb Reisetagebücher.
Michel de Montaigne schrieb Reisetagebücher.
Der Architekt Christian Hlade organisiert weltweite Wanderreisen.
Der Architekt Christian Hlade organisiert weltweite Wanderreisen.

Wem Gott will rechte Gunst erweisen, den schickt er in die weite Welt." Dieser Liedtext der Romantik aus der Feder von Joseph von Eichendorff steht stellvertretend für eine Sehnsucht, eine Entdeckerlust, wie sie auch Eichendorffs Zeitgenossen Alexander von Humboldt und die Österreicherin Ida Pfeiffer verspürten. Für seine Forschungsreisen, seinen Wissensdurst hing Humboldt seine - glänzende - Beamtenkarriere an den Nagel und überquerte den Ozean. Ida Pfeiffer legte ihr Dasein als Mutter und Witwe beiseite, folgte ihrem Kindheitstraum und machte sich auf in ferne Länder. Die Reisen sollten ihr Leben für immer verändern.

Doch was ist es, was uns hinauszieht in diese weite Welt? Es ist das, was da draußen eben anders ist als in unserer vertrauten Umgebung. Die Grenze zwischen dem Wohlbekannten und dem völlig anderen sorgt für Prickeln und Spannung, eben den - auf Neudeutsch - Kick. So abenteuerlich und teils lebensgefährlich wie zu Humboldts Zeiten ist das Reisen jedoch heute nicht mehr, GPS, Kreditkarte und Internet sei Dank. Und in Foren, mit Landkarten und Wikipedia und nicht zuletzt Reiseführern lässt sich vorab schon einiges zum Reiseziel erfahren. Exotik ist da nur eine Frage der Perspektive, der Herkunft des Betrachters. Was für uns ein thailändischer Tempel ist, ein Wat, ist für den Thai-Touristen in Österreich der Stephansdom: ein Anlass zum Staunen und Fotografieren. Was dem einen der Superbowl in den USA, ist der anderen das Münchner Oktoberfest.

Der Tourismus erlebte in den letzten Jahren einen weltweiten Boom. Noch nie in der Geschichte der Menschheit waren so viele Personen aus freien Stücken unterwegs. Bis zur Covidpandemie nahm der globale Tourismus deutlich zu: In den 1950er-Jahren zählte man weltweit 25 Millionen Touristen, im Jahr 2019 wurden laut der deutschen Datenbank Statista weltweit rund 1,5 Milliarden grenzüberschreitende Reiseankünfte
gezählt. Dazu gehören jedoch Geschäftsreisen ebenso wie Urlaub.

Wer den Begriff "Reise" definieren will, muss aufpassen, sich nicht im Metaphorischen zu verirren. Denn auch die Reise nach innen, im besten Fall in Richtung Erkenntnis, ist eine Reise. Viele Religionen sehen im Reisen eine wahre Lebensführung, einen Weg zur Läuterung und schließlich zur Erleuchtung. Die vedische Schrift "Aitareya Brahmana" aus dem 14. Jahrhundert behauptet gar, es gebe kein Glück für den Menschen, der nicht reise. Diese Reise - etwa in Form einer Pilgerreise - kann zu einem ebenso spirituellen wie konkret geografischen Ziel führen. So geht etwa der Muslim nach Mekka, die Christin nach Santiago de Compostela.

Nichts, so meinte der französische Schriftsteller Émile Zola, entwickle die Intelligenz so wie das Reisen. Eine Studie der University of California scheint dies zu untermauern. Der Psychologe William W. Maddux hat mit seinem Team herausgefunden, dass Studierende nach einem Auslandsaufenthalt, vorausgesetzt, sie bringen sich aktiv in die neue, fremde Kultur ein - hier ist nicht die Rede zwei Wochen All-inclusive-Club irgendwo am Strand - eine raschere Auffassungsgabe aufweisen, besser Einstellungen und Gewohnheiten der eigenen Kultur wertschätzen als auch infrage stellen können. Schlauer und anpassungsfähiger, kreativer und lösungsorientierter, fanden die Studierenden dann auch rascher einen Job als die Daheimgebliebenen.

"Reisen formt die Jugend." Diese Behauptung stammt aus dem Reisetagebuch eines Vielreisenden aus dem 16. Jahrhundert, des südfranzösischen Philosophen Michel de Montaigne. Wenn man Christian Hlade nach seinen eigenen Erfahrungen fragt, ist die Antwort wohl ganz in Montaignes Sinn: "Die ganz frühen Reisen waren die, die mich besonders geprägt haben." Das Leben des Architekten hat durch seine Reisen eine ganz andere Richtung eingeschlagen. Erste Touren in die Türkei - "was für eine unglaubliche Gastfreundschaft" - und dann nach Indien haben ihn zum Staunen gebracht und ihm ganz neue Möglichkeiten eröffnet. Mit einem Schmunzeln erinnert sich der Gründer und Leiter von "Weltweitwandern" an die "weltumspannende Lonely-Planet-Gemeinde" dort. Die Mahnungen der Eltern wurden ignoriert, die einen machten Musik, die anderen Schmuck. "Unglaublich, wovon die Leute so leben." Er schüttelt den Kopf und lächelt.

Beim Reisen hebe man ein wenig ab, nichtsdestoweniger sei es aufladend, inspirierend. Und es könne Menschen Mut machen, sich etwa gegen einen ungeliebten Bürojob zu entscheiden. Hlade selbst hat dennoch sein Architekturstudium abgeschlossen, trotz der "Flausen", wie seine Eltern die neuen Ideen nannten, die er von seinen Touren mit nach Hause brachte. Doch die Flausen vom anderen Ende der Welt in seinem Kopf, gepaart mit Realitäten, ließen viele ganz konkrete Projekte entstehen. Und brachten Erfolg. Vor Kurzem wurde im Grazer Hauptquartier gefeiert: 25 Jahre Weltweitwandern, 25 Jahre nachhaltige Wanderreisen. "Trotzdem sag ich meinen Kindern: Lernt's was G'scheites."

Wichtig sei, so Christian Hlade, sich mit dem Reiseziel und dessen Kultur zu beschäftigen. Damit bestätigt auch er die kalifornische Studie. "In vier oder fünf Tagen geht da wenig. In zwei Wochen hingegen schon." Er selbst bereitet sich vor, liest ein wenig, etwa einen Krimi, schaut sich YouTube-Clips an. Nur eins geht nicht: "Reiseführer lesen ist unmöglich!" Einfach zu trocken. Er lacht.

Die Offenheit, die das Reisen bringt, gibt man weiter. Eine Offenheit auch für die eigene Kultur. "Ich habe in Indien das österreichische Liederbuch entdeckt, obwohl ich mit Rolling Stones und Bob Dylan und viel Rebellion aufgewachsen bin." Doch zu Gast bei anderen Kulturen könne man dann sagen: Ich habe meine Heimat und daher etwas Interessantes zu teilen mit dir.

Wer nicht reist, wird nicht den Wert der Menschen schätzen lernen, besagt ein mauretanisches Sprichwort. Doch nicht jeder hat die Zeit und Muße, sich in aller Ruhe aufzumachen, die Fremde kennenzulernen und bereichert und verändert wieder nach Hause zu kommen. Bringt also der klassische Urlaub etwas? Oder wär's klüger, in Balkonien oder im eigenen Garten auszuspannen?

Nein, sagt eine Studie der finnischen Universität Tampere. Im Team von Jessica de Bloom wurden dort 24 Arbeiter mehrere Wochen lang an jeweils freien Wochenenden zu Hause und anderen Orten außerhalb der eigenen vier Wände beobachtet. Das Ergebnis: Während der kurzen Reisen schliefen die Probanden mehr und beteiligten sich öfter an sozialen und sportlichen Aktivitäten. Sie ließen es sich gut gehen und grübelten weniger über ihren Alltagssorgen. Kurzum: Sie erholten sich besser. Denn fernab von Heim und Arbeit konnten sie Energie tanken statt diese zu verbrauchen, frei von Routine und alltäglichen Verpflichtungen. Fazit: Auch ein kurzer Tapetenwechsel sorgt für neue Eindrücke und heilsame Entspannung.

Dass Reisen schlau macht, ist laut Neurowissenschaft sogar bei kleinen Kindern bereits erwiesen. In der britischen Zeitung "The Telegraph" beruft sich die Kinderpsychologin Margot Sunderland auf die Erkenntnisse des Gehirnforschers Jaak Panksepp von der Washington State University. Eine Reise in den Sommerurlaub mit der Familie sei viel mehr als nur Batterien aufladen. Beim gemeinsamen Spiel mit den Kindern werde die Bindung gefestigt, aber auch die Gehirnentwicklung der Kleinen gefördert - durch das Trainieren von zwei genetisch tief im limbischen System verwurzelten Systemen: Panksepp nenne diese "Play" (Spiel) und "Seeking" (Suchen). Mit den Zehen im Sand spielen, den anderen kitzeln, danach ein Waldspaziergang oder Muscheln suchen am Strand - alles Trigger, die zu Hause meist der täglichen Routine zum Opfer fallen. Wenn diese Gehirnsysteme aktiviert werden, schüttet der Körper wohltuende Stoffe aus, darunter Opioide, das "Glückshormon" Dopamin und das "Kuschelhormon" Oxytocin. Stress wird reduziert, das Gefühl von Wärme und Geborgenheit verstärkt. Wer die Wahl habe, so Sunderland, seinem Kind ein Tablet oder lieber eine Urlaubsreise zu schenken, sollte daher nicht zögern.

Im Gegensatz zur hektischen Betriebsamkeit im modernen Tourismus setzen viele auf langsames - und umweltverträgliches - Reisen. Mit Rad oder noch besser zu Fuß. Genetisch ist der Mensch ein Lauftier, die Welt im Gehen zu erfahren kommt unserer Natur am nächsten. Der Schriftsteller Ilja Trojanow hat diese Überlegung für den deutschen Studienkreis für Tourismus und Entwicklung in einen Text gefasst. Darunter ein Abschnitt, der Respekt, aber auch Lust aufs Wandern vermittelt: "Der Fußmarsch ermöglicht eine Wachheit, die einen wie eine Bogensehne spannt. Man ist einer Wirklichkeit ausgesetzt, die sich mit kleinen spitzen Steinen durch die Sohlen drückt, die schwer an den Riemen des Rucksacks hängt, die sich durch schmerzende Glieder, Schweiß und Dreck bei jedem Schritt aufdrängt. Wer mit dem Auto, dem Bus, dem Zug oder dem Motorrad durch die Landschaft fährt, sieht mit den Augen, mehr oder weniger. Wer sie aber zu Fuß durchstreift, der sieht mit dem ganzen Körper. Und er ist den Einheimischen gleichgestellt, er fällt in die tradierte Kategorie des müden Wanderers, dem Menschen weltweit mit den Mitteln der vertrauten Gastfreundschaft begegnen können."

Wer den Dingen also Zeit gibt, macht ganz besondere Erfahrungen. Die hinterlassen wertvolle Spuren, im Kopf und in der Seele. Und können ein Leben verändern.

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