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Selbsterfahrung in Weyer: Gassi gehen mit dem Schweinehund

Einkehrtage. Eine Familie, die sonst selten in der Kirche zu finden ist, wagt zu Ostern ein Experiment.

Empfehlenswert von Zeit zu Zeit: Gassi gehen mit dem Schweinehund.
Empfehlenswert von Zeit zu Zeit: Gassi gehen mit dem Schweinehund.
Der Gong ertönt, es ist Essenszeit.
Der Gong ertönt, es ist Essenszeit.
Beim Palmbuschen-Binden machen alle mit.
Beim Palmbuschen-Binden machen alle mit.
Pfarrer Heinrich Wagner.
Pfarrer Heinrich Wagner.

Das Unterbewusstsein ist ein Hund. Genau genommen sogar ein Schweinehund. Als wir Freitagabend ankommen, sind die anderen bereits da. So muss es sich anfühlen, wenn man eine Großfamilie hat, denke ich. Im oberen Stock lachen und laufen Kinder, am Küchentisch unterhalten sich Erwachsene. Elisabeth tischt uns noch einen Happen auf. Die anderen haben die Betten in ihren Zimmern längst bezogen. Leintücher, Polster und Tuchent sind selbst mitzubringen.

Das Jungscharhaus in Großloiben im oberösterreichischen Weyer ist schön geräumig, aber eben auch sehr einfach. Und das ist gut so: Wir haben in diesen Osterferien kein Spaßhotel mit Pool gebucht, sondern vier Tage in der Einkehr. Genauer gesagt sind es Stärkungstage für Familien, organisiert von der Pfarre St. Elisabeth. Runterkommen, sich aufs Wesentliche besinnen, den Stress hinter sich lassen.

In die Kirche gehen wir sonst nie. Normalerweise hetzen wir mit zwei Schulkindern durch den Alltag. So auch am Abreisetag: Wir packen Gummistiefel, Brettspiele und Kleidung, richten noch schnell die Abwesenheitsnotizen ein. Vier digitale Fasttage stehen uns bevor. Denn Handy, Tablet oder Spielekonsolen sind nicht erlaubt. Dass mich das nervös macht, merke ich erst, als ich mich laut sagen höre: "Wenn das nichts für uns ist, fahren wir morgen wieder heim." Doch die Kinder sind aufgeregt, der Hamster ist schon ausquartiert und der Kofferraum voll. Viel später als gedacht starten wir auf der Westautobahn in Richtung Voralpenkreuz. Ab Sattledt mäandern wir durch kleine Ortschaften, schließlich nehmen wir Anlauf auf einen Berg. Nach zwei Stunden sind wir da. Draußen ist's dunkel, die Einsamkeit ringsum erahnen wir nur. Zu viert beziehen wir ein Zimmer mit drei Stockbetten im ehemaligen Bauernhaus, das heute kirchlich genutzt wird. Eine Tasche nach der anderen hieven wir die Treppen hinauf. Doch eine fehlt: Die mit unserem Bettzeug. Auch unsere Zahnbürsten sind da drin! Mein Unterbewusstsein will uns wohl postwendend zurück nach Salzburg schicken. Ich sehne mich nach gemachten Hotelbetten und einem Frühstücksbuffet.

Tagwache ist um 7.00 Uhr. Völlig unterkoffeiniert raffe ich mich auf, vage nehme ich 22 teils fremde Gesichter im großen Saal wahr. Es ist Zeit fürs Morgengebet, für uns eine völlig neue Routine. Meine Augenlider sind noch auf halbmast, mit einer Tasse Kaffee wünsche ich mich zurück ins Bett. Doch Pfarrer Heinrich Wagner erzählt gut gelaunt eine Geschichte. Und bei ihm werden in wenigen Sekunden die Bilder lebendig. "Du bist ein Vogel, du bist ein Samen und du bist der Regen", sagt er und teilt den Kindern Rollen zu. Sogar die Erwachsenen spielen mit. Als wir uns alle am Ende unserer improvisierten Performance in starke Bäume verwandelt haben, die dem Sturm trotzen und sich in Richtung Sonne strecken, ist es Zeit fürs Frühstück. Ich fühle mich erstaunlich munter, ganz ohne Koffein.

In der Speisekammer finden wir Brot, Kaffee, Gemüse, frisches Obst, Kartoffeln und Nudeln für die nächsten Tage. Wann es Kasnocken oder wann Gemüsesuppe gibt, steht bereits fest, der Essensplan klebt an der Küchentür. Jeder ist hier einmal mit Kochen, Putzen und Tischdecken dran. Wenn das Essen fertig ist, locken die Köche und Köchinnen mit einem Schlag auf den riesigen Gong die Bande herein. Elisabeth ist die, die "unsere Familie auf Zeit" zusammenhält. Seit Jahren organisiert sie mit Pfarrer Wagner die Stärkungstage für Familien. Und willkommen sind hier Familien aller Art. Sie weiß, wie der Geschirrspüler funktioniert, wo die Messer hingehören und wie der Müll getrennt werden muss. Weil alle flugs zusammenhelfen, sitzen wir dann auch bei einem Frühstück, das einem Buffet im Hotel um nichts nachsteht.
Die Kinder bemalen T-Shirts, spielen Fußball oder bauen am Abenteuerspielplatz eine überdimensionale Kugelbahn. Sandra und Florian vom Pfarrkindergarten kümmern sich halbtags um die Kleinen. Inzwischen schickt uns Heinrich mit einem Satz aus der Bibel bei der Tür hinaus. Erste Aufgabe: Langsam gehen. In Stille. Allein. Den Bibelsatz sollen wir für uns wiederholen. Und wenn Heinrich sagt langsam, dann meint er das auch: "Geht so langsam, dass ein Reh im Wald nicht merkt, dass ihr da seid." Schon als er es vormacht, spüre ich, wie sich alles in mir sträubt. Bestimmt auch, weil ich weiß, dass wir das jeden Morgen wiederholen.

Es nieselt, draußen ist es ungemütlich kalt. Direkt hinterm Haus führt ein Wanderweg hinauf in den Wald. Wolken ziehen über die nahen Berggipfel, oben liegt Schnee. Die Wiesen sind saftig grün, die Erde unter meine Füßen ist vom Regen weich. Zwischen den Wolken erkenne ich, wie die Enns durchs Tal rauscht. Mich zieht es hinauf in den Wald. Im Schutz der Fichten kann mich hoffentlich niemand sehen beim Zeitlupengehen. Ich muss mich ordentlich konzentrieren, um nicht schneller zu werden und auch, um das Gleichgewicht zu halten. Ich bin so nicht, ich kann das nicht, alles in mir wehrt sich. Doch ich bleibe.

Ich höre nicht auf, nur weil es unangenehm ist. Zum Glück hält mich ein Baum fest. In dreißig Minuten schaffe ich vier Schritte. Die klare Luft und der Duft nasser Nadeln lassen mich allmählich ruhiger werden. Erst jetzt begreife ich wirklich, wie schön es um mich herum eigentlich ist.
Als wir danach im Sitzkreis über unsere Erfahrungen sprechen, entwickelt sich die erste von vielen philosophischen Diskussionen. Immer wieder dient die Bibel als Ausgangspunkt. Doch worüber wir reden, geht ganz tief in unser Menschsein hinein. Was wehrt sich nur in mir, wenn ich langsam gehen soll? Dieser innere Schweinehund, hat er womöglich seine Berechtigung? Will er mich schützen? Und: Benötige ich diesen Schutz überhaupt noch?

Nach dem Mittagessen haben wir Freizeit. Die Kinder spielen, uns Eltern brauchen sie nicht. Irgendein Erwachsener ist immer da, Großfamilie eben. Zuerst ist das komisch, ich fühle mich fast ein bisschen verloren. Keine Wäsche will gewaschen und kein Einkauf erledigt werden. Vor mir ist einfach freie, unverplante Zeit. Die innere Unruhe, die jetzt aufkommt, die kenne ich: Ich winke ihr zu. Es ist die gleiche wie beim Langsamgehen. Doch wir freunden uns an, jeden Tag ein wenig mehr. Ich beginne, meine Gefühle zu akzeptieren, mich nicht mehr dagegen zu wehren. Nichts muss. Alles kann.

Und gerade dabei tut sich plötzlich Neues auf. Zum Beispiel liegen mein Mann und ich einfach so in unseren Stockbetten und lesen. Mit seinem inneren Schweinehund sollte man also ruhig viel öfter Gassi gehen, nicht nur an Einkehrtagen. Aber immer schön langsam!
Info: www.st-elisabeth-salzburg.at

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